Der 26. April 1986 schien als Tag wie jeder andere seinen Lauf zu nehmen. Doch rund eineinhalb Stunden nach Mitternacht war alles anders. Um 1.30 Uhr kam es im Atomkraftwerk in Tschernobyl in der Ukrainischen SSR zum schwersten Unfall in der Geschichte der Gewinnung von Elektrizität aus Kernenergie. Zwei gewaltige Explosionen zerstörten den Block 4 der insgesamt vier Reaktorblöcke und schleuderten höchst radioaktives Material in die Umwelt und bis hoch in die Atmosphäre. Weite Teile der Ukraine, mit seiner Hauptstadt Kiew, Weißrussland und Russland wurden mit hochradioaktivem Material verseucht. Die atomare Wolke breitete sich zudem über weitere Teile Europas, auch bis nach Österreich, aus. Im weiten Umkreis um Tschernobyl wurden 55 Ortschaften – u. a. das 1970 im Zuge des Kraftwerksbau errichtetet Prypjat – evakuiert, ohne Rückkehrgarantie für die vordem dort wohnenden Menschen. Heute sind Prypjat und zahlreiche weitere Siedlungen Geisterstädte.
Folgenschweres Experiment
Unmittelbare Ursache des Super-GAUS, des Größten Anzunehmenden Unfalls, waren Experimente der Reaktormannschaft, für die die Bauweise des sowjetischen Reaktortyps RBMK nicht geeignet waren sowie nicht zuletzt schwere Defizite in der Sicherheitskultur bei der Nutzung der Atomkraft zu friedlichen Zwecken. Noch 35 Jahre später sind die Folgen der Kernschmelze zu spüren. Die Umgebung des nunmehrigen Kraftwerks ist weiterhin auf unbestimmte Zeit eine „no go area“, die Reste des Kraftwerks sind mit einem meterdicken Betonmantel umhüllt, der die im Inneren der Kraftwerksruine noch immer gewaltige Radioaktivität von der Außenwelt abschirmen soll. Nach Berechnung von Experten möglicherweise bis zu 100.000 ! Jahre.
So unbekannt wie die weitere Entwicklung der Situation ist auch die Anzahl der durch den Super-GAU zu verzeichnenden Todesfälle. Unterschiedlich sind die Angaben der ehemaligen Kraftwerksbetreiber, die von 31 Toten im Zuge der Bekämpfung des Brandes und der kurz nach der Explosion durchgeführten Sicherungsarbeiten berichten, während andere Quellen von über 40 Opfern und noch zu erwartenden Tausenden Spätopfern durch die atomare Strahlung ausgehen. Tschernobyl wird uns also noch viele Jahre begleiten.
(Cineastisches) Vorspiel
Unfälle in Atomkraftanlagen sind jedenfalls keine wenigen Einzelfälle sondern Bestandsteil laufend wiederkehrender Unzulänglichkeiten und daraus resultierender Gefahrenmomente bei der Gewinnung von elektrischer Energie durch Kernspaltung. GAUS sind allerdings bislang nur drei Mal zu verzeichnen gewesen. Beim Reaktorunfall im US-Kraftwerk Three Mile Island in Pennsylvania in den USA ereignete sich am 28.März 1979, also sieben Jahre vor der Katastrophe in Tschernobyl, eine teilweise Kernschmelze, in deren Verlauf ungefähr 30 Prozent des Reaktorkerns geschmolzen sind. Durch das sofortige aktivierte umfassende Krisenmanagement und wohl einer großen Portion Glück ist es jedenfalls gelungen, eine Katastrophe wie sie später im Fall Tschernobyl verzeichnet werden musste, gerade noch zu verhindern. Die damalige Dramatik knapp am totalen GAU illustriert unter anderem ein zufällig knapp vor der Katastrophe produzierter Film. „The China Syndrome“. Dieser setzt sich kritisch mit der wirtschaftlichen Nutzung der Kernenergie auseinandersetzt. Im Mittelpunkt steht ein fiktiver Störfall in einem amerikanischen Kernkraftwerk, der seine Ursache sowohl in technischem als auch in menschlichem Versagen hat; nur wenige Monate nach der Produktion wurde die Inszenierung von der Realität gewissermaßen nahezu deckungsgleich eingeholt.
Die Katastrophe von Tschernobyl in Kunst und (Film-)Kultur
Mittlerweile gibt es auch über das Tschernobyl-Desaster zahlreiche Dokumentationen. Von jenen Menschen, die immer noch in der Sperrzone arbeiten handelt beispielsweise der 1999 erschiene Film des österreichischen Filmemachers Nikolaus Geyrhalter „Pripyat“. Geyrhalter erzählt vom Überleben in einem Mikrokosmos, in dem man nichts essen, nichts trinken und bei Wind keinen Staub einatmen sollte. In der Realität hält sich jedoch kaum jemand an diese Empfehlungen.
Seit 2011 ist die Sperrzone zudem auch für den Tourismus geöffnet. An die 50.000 Menschen kommen jährlich in die Gegend rund um das Atomkraftwerk. Wirft man beispielsweise einen Blick auf Fotoplattformen wie Shutterstock oder Fotolia so herrscht eine überwältigende Auswahl an Bildmaterial.
Im Juli 2017 nahm auch die Künstlerin Nadja Gusenbauer Bilder in der Sperrzone auf. 43 Schwarz-Weiß Bilder sind 30 Jahre nach der Atomkatastrophe noch bis 25. Mai in der Ausstellung „Sperrzone Tschernobyl – Verschwunden 1999“ in der Galerie LIK in der Spittelberggasse 9 in Wien zu sehen.
Soeben erschienen ist auch ein Bildband des ehemaligen National Geographic Fotografen Gerd Ludwig. Insgesamt neun Mal hat Ludwig in den letzten 20 Jahren Tschernobyl besucht und sich dabei unter anderem auch in den „Bauch“ von Reaktor #4 vorgewagt sowie immer wieder jene Menschen abgelichtet, „die bereit waren, ihr Leiden öffentlich zu machen – einzig beseelt von der Hoffnung, Tragödien wie jene in Tschernobyl zukünftig zu verhindern“, so Ludwig. Als „Pflichtlektüre für jeden von uns“, bezeichnete Chris Johns, Chefredakteur des „National Geographic Magazine“ den Fotoband. Im Buch enthalten ist unter anderem ein Essay von Nobelpreisträger und Ex-Sowjetpräsidenten Michail Gorbatschow, der die Bedeutung der Ereignisse von Tschernobyl im Lichte der politischen Entwicklungen, die zum friedlichen Ende des „Kalten Krieges“ geführt haben, reflektiert.
Bereits vergangenes Jahr erschienen ist die von HBO produzierte Miniserie „Chernobyl“, die das Geschehen der Tschernobyl-Katastrophe filmisch aufarbeitet.
Fukushima – ein weiteres atomares Desaster
Ebenfalls ein trauriges Jubiläum feiert die Nuklearkatastrophe von Fukushima auf der Insel Honshū in Japan. Ausgelöst durch ein schweres Erdbeben und den dadurch ausgelösten Tsunami kam es am 11. März 2011 in drei von insgesamt sechs Reaktorblöcken zu Kernschmelzen. Zwar wurden damals mit 30 Prozent radioaktiver Emissionen nicht so viel wie in Tschernobyl freigesetzt, doch die Menge genügte noch immer um Luft, Böden, Wasser und Nahrungsmittel intensiv zu kontaminieren. Rund 150.000 Menschen mussten das Gebiet vorübergehend oder teilweise ganz verlassen. Wie viele Todesopfer die Katastrophe verursachte ist bis heute nicht bekannt, vor allem die Langzeitfolgen der atomaren Verseuchung und ihre Opfer sind noch nicht absehbar. Aktuell steht der Unfall wieder im Mittelpunkt heftiger Diskussionen über Atomkraft, weil die Kraftwerksbetreiber das in riesigen Behältern gesammelte radioaktiv kontaminierte Löschwasser und jenes durch den Tsunami in das Werk eingedrungene Meerwasser in den Ozean pumpen wollen.
Wie die Menschen in der Region Fukushima nach der Kernschmelze leben, zeigt die Doku „Furusato – Wunde Heimat“ von Thorsten Trimpop.
Bereits wenige Monate nach der Katastrophe hat sich auch Filmemacher und Fotograf Wim Wenders nach Fukushima begeben. Auf seinen beeindruckenden Bildern aus Fukushima ist so etwas wie eine Sinuskurve zu sehen. „Der analoge Film hat etwas Unsichtbares wie Strahlung wiedergegeben“, so der Regisseur im Rahmen der Foto-Ausstellung „Places, Strange and Quiet“, bei der im Jahr 2013 in der Galerie Ostlicht unter anderem jene Bilder erstmals auch in Österreich zu sehen waren.
Sackgasse Kernenergie
Die heftigen Unfälle in Atomkraftwerken unterstreichen einmal mehr, dass der Mensch nicht alles beherrscht, was er zu beherrschen meint. Niemand kann ausschließen, dass es nicht weiterhin extreme Störfälle in Kernkraftwerken mit extremen Folgen geben könnte. Die Energiegewinnung aus Kernenergie gilt in vielen Köpfen nicht mehr wie in früheren Jahren als das Nonplusultra der Energiepolitik, nicht zuletzt weil auch bislang die Entsorgung radioaktiver Abfälle nicht zufriedenstellend gelöst ist. Mit der Bedrohung, die sich aus der Lagerung der Unmengen an radioaktiven Müll ergeben, setzt sich unter anderem der dänische Regisseur Michael Madsen in seiner ebenso inhaltlich packenden wie visuell beeindruckenden Doku „Into Eternity“ auseinander.
Der vor nahezu 50 Jahren gestartete Versuch der Errichtung eines so genannten „Schnellen Brüters“ in Kalkar in Deutschland ist jedenfalls grandios fehlgeschlagen. Das Kernkraftwerk ging wegen schwerer sicherheitspolitischer und letztlich politischer Bedenken nie in Betrieb.
Für viele Menschen ist Tschernobyl ein Fanal für die Unwägbarkeit und die Überheblichkeit menschlichen Handelns auf der Basis ideologisch determinierter Richtlinien; letztlich ein Symbol für einen Irrweg im Bestreben nach immer mehr elektrischer Energie durch riskante Investitionen zu produzieren. Die Tschernobyl-Katastrophe ist vielen Mahnung und Lehrstück zugleich, auch wenn so manche Staaten und Energieversorger meinen daraus partout nichts oder nur wenig lernen zu müssen.
Links:
Ausstellungen:
https://www.galerie-lik.com/16032021-nadja-gusenbauer
Buchtipp:
http://edition.lammerhuber.at/buecher/der-lange-schatten-von-tschernobyl
Film-Tipps (auf Mubi zum Ausleihen):
https://mubi.com/films/the-china-syndrome
https://mubi.com/films/chernobyl
https://mubi.com/films/furusato
https://mubi.com/films/into-eternity
Titelbild: Prupyat, Chernobyl, Ukraine – April 30, 2019: Verlassenes Karusell im ehemaligen Stadtzentrum von Pripyat © shutterstock/Alexandra Lande
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